12
Jul
2005

Wie war das mit der Wahrheit?

Original und Fälschung
The Mixing Wizard
Das große Thema eines Lebens: Musik

Jaja, die Zeiten ändern sich:

Versuchten manche Komponisten früher noch, eigene Musik zu erfinden,
so geht es heute darum, aus tausendfach Gehörtem neue Kombinationen
zu kreieren.Ganz neu ist das ja nun auch nicht, zumal der Bruch mit Kompositionsregeln
nie wirklich stattgefunden hat und deswegen schon immer bereits bekannte
Elemente variiert und kombiniert wurden.
Trotzdem bietet die Reproduzierbarkeit durch gesamplete Loops eine
neue Qualität des Kopierens und Wiederholens.
Und niemand scheint es zu bemerken.
Oder, wenn doch, so stört sich zumindest keiner daran.
Das stimmt mich dann doch etwas nachdenklich.
 

Der Unterschied zwischen Original und Kopie verschwimmt.

Wenn man mal etwas zurückdenkt, dann ist das so, als wenn einer
eine Sinfonie geschrieben hätte, die aus lauter Teilen anderer Sinfonien
von - sagen wir mal - Beethoven, Bruckner und Haydn besteht. Vor 100 Jahren
wäre das ein Skandal gewesen. Oder niemand hätte hingehört.
Andererseits hat Mozart sich fleißig aus dem Volkliedfundus bedient,
und alle fanden es eine prima Idee. Aber Mozart war schließlich auch
ein Pop-Musiker. Und seine Musik wurde auch so aufgefasst und bewertet:
Der Unterhaltungswert ist wichtiger als künstlerischer Gehalt.
Das ist ja auch nichts Verwerfliches, nur bewusst sein sollte man sich
dessen.
 

Das Prinzip ist also nicht neu, wohl aber das Ausmaß!

Egal, ob man das alles gut findet oder nicht, sollte eine gewisse Aufmerksamkeit
darauf gerichtet werden, ob es sich um reine Plagiate handelt, die das
Vertraute des schon tausendmal Gehörten benutzen, um höhere Verkaufszahlen
zu erreichen, oder um künstlerisch kreative Neuschöpfungen aus
Teilen, die es zwar schon gibt, die aber in einer bestimmten Zusammenstellung
einen neuen Gehalt haben. Gegen letzteres ist nichts einzuwenden - wer
würde schon behaupten, eine Collage könne niemals Kunst darstellen,
weil es die Objekte, aus denen sie besteht, schon gibt und deshalb der
Künstler keine eigene Schöpfung vollziehe. Schließlich
gibt es ja auch alle Töne und Farben schon seit geraumer Zeit.
Aber bemerken denn immer weniger Menschen, wenn es sich bei einem Song
um eine platte Kopie handelt, die weder eine eigene Qualität hat noch
die des Originals auch nur ahnen läßt?
Zu dieser Überlegung ein weiterer Gedanke:
 
 

Mut zur Lücke: MP3

Das sich wegen seiner enormen Datenkomprimierungsrate immer mehr verbreitende
MP3-Format für digitalisierte Musik, mit seinen "Verwandten" wie die
Sony MiniDisc und Digital Radio, birgt eine gewisse Gefahr in sich, deren
Auswirkungen wohl frühestens die nächste Generation erfahren
wird. Ich will hier bestimmt nicht den großen Propheten der künftigen
düsteren Welt spielen, aber ich glaube doch, daß eine Generation,
die von Kindheit an überwiegend komprimierte Musik gehört hat,
eine veränderte Wahrnehmung der akustischen Welt, und vielleicht damit
sogar der ganzen Welt, haben wird.

Im MP3-Format werden alle Schallereignisse weggelassen, die nicht bis
ins menschliche Bewußtsein dringen, d.h. die Daten sind nicht einfach
komprimiert, sondern sie sind reduziert. Man hört tatsächlich
weniger als im Original einmal vorhanden war. Das trifft auf alle Aspekte
eines Klangsignals zu, nämlich Frequenzen und Spektralanteile, Lautstärkeverhältnisse
und Dynamik, und zeitliche Verläufe.

Nach einem Snare-Drum-Schlag z.B. kommt etwa 80 Millisekunden lang
gar nichts, weil durch den lauten "Knall" unsere Wahrnehmung so gefesselt
ist, dass wir einen Moment lang sowieso nichts anderes bemerken, wenn es
nicht noch lauter ist. Dieses Phänomen nennt man Dynamische Nachverdeckung.

Solche Verdeckungseffekte gibt es jede Menge, und bei der Datenreduktion
macht man sich das zu Nutze, um unbemerkt akustische Anteile wegzustreichen.

Eine Extremform liegt bei der Sprachübertragung bei ISDN und Mobilfunk
vor. Jeder kann feststellen, dass über eine ISDN- oder GSM-Verbindung
die Laute "s" und "f" kaum zu unterscheiden sind. Weil das Erfassen von
Sprache aber ein hohes Maß an Assoziativleistung in unserem Gehirn
auslöst, haben wir trotzdem keine Probleme, den anderen zu verstehen.
 

Läßt sich solch eine Entwicklung ohne negative Folgen
für den Menschen ewig fortsetzen?

Da geben Leute viel Geld für eine Stereoanlage aus, die möglichst
"echt" akustische Ereignisse wiedergeben soll, und gleichzeitig erlauben
sie einem popeligen Mikroprozessor zu entscheiden, was sie hören dürfen
und was nicht.

Herzlichen Glückwunsch!

Ich glaube nicht, dass die Wiener Philharmoniker ihre Instrumente aus
speziellem Holz bauen lassen, nur damit bei der Übertragung eines
Konzerts über einen digitalen Klassik-Sender die Hälfte des Frequenzspektrums
einfach in den digitalen Mülleimer geworfen wird und das empfangende
Gerät nach dem Gutdünken des Programmierers, der den "Lückenergänzungsalgorithmus"
ausgetüftelt hat, irgendwas hinzufügt.

Immerhin ist es im Moment noch deine eigene Entscheidung, ob du einen
MP3- oder einen CD-Player (ohne Reduktion) benutzen willst,
ob du einen natürlichen authentischen Klang mit etwas Grundrauschen
einem hochglanzpolierten teilweise künstlich Erzeugten vorziehst.
 

Aber da gibt es auch welche, die diese Entscheidung nicht treffen
können: Die Kinder.

Als Musiker und langjähriger Tontechniker habe ich selbst erfahren
dürfen, wie man die Wahrnehmung durch das Gehör schulen kann.
Das hat übrigens nichts mit den Ohren in ihrer physischen Funktion
zu tun, sondern mit der Verarbeitung des Gehörten im Gehirn.

Das Paradebeispiel dazu ist allseits bekannt:
Der ertaubte Beethoven, der, sogar ohne dass seine Ohren physisch
funktionierten, eine Sinfonie komponierte, die er ja nur noch in seinem
Gehirn hören konnte.

Und sie war gut!

Die Frage, welche Auswirkungen es haben könnte, wenn Menschen,
anders als je zuvor, mit unvollständigen akustischen Wahrnehmungen
aufwachsen und sie nie lernen können, die angeborenen Wahrnehmungsfilter
("Verdeckungseffekte") anzuwenden, kann natürlich nur spekulativ -
und damit überhaupt nicht - beantwortet werden.

Es einfach mal "drauf ankommen zu lassen", halte ich aber für ein
Spiel mit dem Feuer und allemal Besorgnis erregend fatalistisch.

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Karan - 18. Jul, 16:30

Das real erlebte musikalische Ereignis...

... vulgo "live act" bietet eben immer noch am meisten. :-)

Wenn ich aber Musik höre, dann ist mir die Klangqualität der Aufnahme nicht gar so wichtig, weil da bei mir das Eigentliche sowieso im Kopf geschieht. (Die meisten meiner Musiker-Kollegen haben grauslige Billig-Anlagen; ich selbst hatte jahrelang gar keine).

Wobei ich die neuesten technischen Entwicklungen (Stichwort: Loops) durchaus als Werkzeuge zu schätzen weiß... im Kontext einer Klangerzeugung, bei der sie Mittel zum Zweck sind und nicht der Zweck selbst.

Ob die Signalreduzierung bei Dauerhörern (zu denen ich nicht gehöre!) zu einer Art "auditiver Deprivation" führen kann? Ich weiß es nicht - halte es aber für möglich. Besonders bei Kindern; da hast Du absolut recht mit Deinen Bedenken!

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